Kritik: Dark

Durch den Wald in die Zeit

© Netflix

Irgendwann, kurz vor Ende der ersten Staffel „Dark“, mag sich jener Protagonist, mit dem wir eine verspiegelte Reise durch die Zeiten der Zeit absolviert haben, nicht mehr den ungeordneten Verhältnissen zwischen Wille und Determination beugen. Jonas (Louis Hofmann) brüllt ein durchdringendes, weinverleimtes „Stopp!“ Seine Verzweiflung ist Geste eines metareflexiven Empfindens: Stoppt, könnte man denken, endlich das Wachstum des Stammbaums! Denn für eine deutsche Serie, speziell für die erste deutsche Netflix-Serienproduktion, ist „Dark“ hochvergnüglich, ansprechend, anspruchsvoll. Daran beteiligt: Albert Einstein, H. G. Wells, Friedrich Nietzsche. Die Serie spielt mit dem vorangeschobenen Unverständnis, der Krümmung der Kausalität, schließlich mit den beziehungsmenschlichen Verrenkungen und brütenden Zweideutigkeiten in einer Provinz als geschlossenes Subsystem makabrer Codes. Der Verweis auf die Suburbia-Höllen David Lynchs („Blue Velvet“, „Twin Peaks“) findet in „Dark“ seine deutsche Entsprechung. Überall knistert, knackt es in den Wäldern jenseits des Gesetzten und Gefestigten, überall Regen, Nässe, Dunkelheit, überall forciert die Geschichte einen Symbolismus, der sowohl Fleischlichkeit als auch Mystik verbindet, um die „Uneigentlichkeit“ (Karl Jaspers) des Menschseins im Angesicht von dessen transzendentester Schwäche im Augenblick seiner Wahl zu hinterfragen.

An persiflierendem Humor fehlt es „Dark“ aber, gemäß dem Titel, gänzlich. Darauf weist bereits der Soundtrack (Ben Frost) hin. Stets dröhnt, trommelt, raunt er, untermalt die Alltäglichkeit mit einem Geisterrequiem. Nichts ist den beiden Ideenerfindern Jantje Friese und Baran bo Odar zu bedeutungsschwanger, um es nicht trotzdem in ein apokalyptisches Orchester umzudirigieren. „Dark“ als schwarze Groteske zu lesen, empfiehlt sich daher nicht. „Dark“ will unsere volle Aufmerksamkeit, womit sich die Serie bewusst tendenziellen Anfeindungen aussetzt, die von „prätentiös“ zu „verschwurbelt“ reichen. Die musikalische Textur verleiht dem Geschehen, weniger Geschichte als Geschichtsfindung, nichtsdestotrotz einen schaurigen, technizistischen Schleier, unter dem die Versuchung des Scheiterns lauert. Drei Zeitsegmente – 1953, 1986, 2019 – innerhalb einer 33-jährigen Taktung verkauft uns die Serie als ihr nebulöses Paradoxon, wenn in all‘ diesen Zeitverschließungen „unerhörte energetische Steigung[en]“ (Volker Gerhardt) die „Resignation der Endlichkeit“ überwinden: In jedem dieser Jahre, so der auf den ersten Blick archetypische Crime-Plot, verschwinden Kinder und tauchen andernorts wieder auf, ohne Augen, mit geplatzten Trommelfellen, verhaftet den Insignien ihrer Zeit, der Mode, der Musik, dem Massengeschmack. Unweit davon, neben dem toten Körper, liegt ein Raider.

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Während Friese und ihr Ehemann drei Zeitschienen erkunden, in denen sich Figuren dazu entschließen, „Lebenswelten“ (Jürgen Habermas) ihres jüngeren Selbst mitsamt den Umständen ihrer Existenz zu durchqueren, kontextualisiert „Dark“ die Meriten des Zeitreisens nach Nietzsche: „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“ So trifft ein von magischen Naturkräften in eine entfremdete Zeit katapultierter Junge (Daan Lennard Liebrenz), Sohn seiner Eltern (Jördis Triebel, Oliver Masucci), auf seine adoleszenten Eltern (Nele Trebs, Ludger Bökelmann), deren Liebe erst reift und gedeiht, um eines Tages ihn, den Sohn, zu schaffen. Wenn sich dieser Sohn bewegt, unfähig, hinter die Entstellungen der Welt zu blicken und vor der Haustür seines (zukünftigen) Zuhauses abgewiesen wird, dann kann das Verwandelte unverzüglich zum Zermalmenden werden. Aber nicht jedes Mysterium formulieren Jantje Friese und Baran bo Odar aus. Wie genau das Zeitreisen ermöglicht wird, hat sowohl einen wissenschaftlichen (mittels zweier Maschinen), einen metaphysischen (mittels abgelegener Höhlen, die ein Tor zu einem verzweigten Tunnelsystem repräsentieren) als auch einen gelegentlich ideologischen Hintergrund mittels eines verstörenden Experimentierraums in Gestalt kuschelig ausstaffierten 80er-Jahre-Kinderträumens. Die Loops der Wiederholung sind der Serie inhärente unheimliche Augenblicke.

Zu mechanisch, gar zu selbstvernarrt wird „Dark“ dennoch nur sporadisch. Helge Doppler (Tom Philipp, Peter Schneider, Hermann Beyer), seines Zeichens Leidtragender familiärer Vergletscherung, AKW-Mitarbeiter und Dementer, spielt dreifach eine tragische Kreatur, die übersät ist von Verletzungen und Heimsuchungen. Sein Familienname ist nicht zufällig gewählt. Das artifizielle Intro der Serie als solches „verdoppelt“, spiegelt und reflektiert, dementsprechend, Menschen, Orte, Erscheinungen. Auf Helge Doppler überträgt sich ein Gefühl existenziellen Mitleids und Mitleidens – er erscheint als passiver Spielball höherer Himmelsmächte, mit dem die Serie imstande ist, vielschichtigen Schmerz zu verewigen. Einer deutschen Serie wie dieser gelingt es sogar, kompromisslos ein „Urverbrechen“ auf denkbar denkwürdigste Art und Weise darzustellen: Helge trifft brutal ein Stein, um die Zukunft zu ändern. Eigentlich wird sie aber erst dadurch möglich. Neben verzwicktem Theoretisieren über Zeit- und Raumdehnungen (Arnd Klawitter und Christian Steyer in der Rolle des notorisch-neurotischen „Docs“, bestürzend blickend auf ein Smartphone) sind es derartige Ohnmachtstaten „straffgezogene[r] Gefühle“ (Nietzsche), die das künstlerisch konservative deutsche Gegenwartskino quasi dekonstruieren. Reizvoll: Täuschend ähnlich nicht nur das Äußere der verjüngenden wie alternden Figuren, sondern ebenso deren charakterlicher „Bauplan“.   

„Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“

Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente“, Sommer 1886 – Herbst 1887 5[71] (KSA 12, S. 213)

An dieser Stelle zeichnen die Showrunner manche Figur zweifellos eine Spur zu eindimensional durch deren Lebenslinien – manche Figur wie die intrigante Hannah Kahnwald (Ella Lee, Maja Schöne), die, wann immer sie auftaucht, einem plakativen Klischee weiblich zerstörerischer und egozentrischer Berechnung huldigt. Überhaupt ist das Sujet Zeitreise spannender zu verfolgen als das Sujet Seifenoper. Es liegt nicht zuletzt an den überschaubaren darstellerischen Fähigkeiten insbesondere Lisa Vicaris und Paul Lux‘, dass sich das Liebesdreieck um Martha (Vicari), Bartosz (Lux) und Jonas (Hofmann) vergleichsweise gezwungen und klamaukhaft entfaltet, ehe es für längere Zeit abermalig stagniert. Nicht immer rascheln die „Dark“-Teleplays weise: Folge für Folge tendiert die Serie zur großgrößeren Dimension, zur Aufblähung. Indem Friese und bo Odar jeder noch so unbedeutenden Nebenfigur ein existenzialistisches, lückenhaftes Geheimnis zuschreiben (Regina und Aleksander Tiedemann, Doris Tiedemann), verzetteln sie sich in ihrer Konzentration, auf ein dramaturgisches Erzählzentrum zuzusteuern. Auch der als Antichrist zu verstehende, omnipräsente Noah (Mark Waschke) reaktiviert eine historische Schlacht biblischer Fantasterei, dessen Nutzen einzig ein höherer, begründungspflichtiger ist. Jonas‘ „Stopp!“ steht insofern exemplarisch für eine Serie, die ausfranst. Ihr Verdient ist es, dass wir nicht wissen, wohin wir in ihr gestoßen werden.  

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