Kritik: Nanouk

Gefrorene Gefühle

© Neue Visionen Filmverleih GmbH

Als die „letzte Familie auf der Erde“ umschreibt sie Regisseur Milko Lazarov romantisch – eine Familie, die er in „Nanouk“ verrahmt. Die Familie besteht aus drei Familienmitgliedern, zusammengeschrumpft auf zwei. Da ist die Mutter Sedna (Feodosia Ivanova) und der Vater Nanouk (Mikhail Aprosimov), während die Tochter Ága (Galina Tikhonova) fortging. Seda und Nanouk haben ihr Zelt mit ihren Habseligkeiten in der Eiswüste des sibirischen Nordens aufgeschlagen. Von der Technikentfremdung, dem Fortschrittswahn, dem Beschleunigungszeitalter zeugt einzig ein Antennenradio. „Nanouk“ ist ein Film würdevoller Selbstbekümmerung, verrichteter Schwerstarbeit und entrückter Klanglichkeit. Lazarov stimmt ein melancholisches Wander- und Dürrelied an, das von Ritualen durchwaltet ist: Fischen Fallen stellen, Nahrung kochen, Eisblöcke heben, im Weiß des Schnees verschwinden. Nanouk verschwindet gar öfters. Er wirkt winzig aus der Weite der Entfernung; Kaloyan Bozhilovs Kamera blickt der Zerbrechlichkeit, ja Schönheit dieser Kreatur entgegen. Der Film wird beherrscht, geradewegs drangsaliert von einem Gehen und Geschobenwerden über die gesamte Breite des Bildes, wohingegen das Lebendige sich gegen das Starre, Getaute zu behaupten versucht. In der Profanität beinharten Überlebens steht Lazarovs Familie inmitten der Demarkationslinie zwischen Handwerk und Industrialisierung. 

Gesprochen wird in „Nanouk“ mit großen Unterbrechungen. Wenig wird gesprochen, vielmehr ergriffen gesungen, zart geflüstert, rissig gehaucht. Die Sprache ist längst vereist, unnahbar und holzgetrocknet verklebt. Genauso isoliert wie die Menschen auf einem Bild Edward Hoppers. Diese hat sich Milko Lazarov – dem eigenen Bekunden nach – Schicht um Schicht angesehen, um ein Gegenbild zu entwerfen. Die Intimität von Sedna und Nanouk bricht mit der distanzierten Perspektive einzelindividualistischer Minimalregungen. Stattdessen durchzieht ein anachronistischer Wärmestrom diese eine letzte Gemeinschaft der Welt und verschweißt sie gegen Wind und Wetter. Hin und wieder katapultiert sich dennoch eine durch Drehbuchseiten raschelnde Erzähllastigkeit dieses an sich erzählarmen Films an die Oberfläche: Sedna leidet an einer Verletzung, deren prophetische Bedrohlichkeit tote Tiere metaphorisieren, und drückt ihre Träume in einem Nachdenklichkeitsevangelium aus. Nanouk hingegen entschließt sich, seine Tochter zu finden. Er durchquert (als Beifahrer) den Wüstensandweg zu einer Diamantmiene, in der Ága arbeitet. Er durchquert eine andere Welt. Die Weite ist geblieben, aber Häuser und Fahrzeuge überziehen das Gewohnte mit einer Schicht Zivilisierung. „Nanouk“ entwickelt sich zum Roadmovie, das ein geografisches Ziel hat – die Familie in einer schier unüberblickbaren, festgestoßenen Tiefe.   

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